HIV-Infektiosität unter einer stabilen und wirksamenaidshilfe_hessen_ev
antiretroviralen Therapie (sART)


Positionspapier der AIDS-Hilfe Hessen zur Veröffentlichung der
Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) vom 30. Januar 2008

Vorbemerkung:

In Deutschland wird derzeit darüber diskutiert, wie mit den Empfehlungen der Eidgenössischen Kommission für Aids-Fragen (EKAF) zur Beratung gut behandelter HIV-infizierter Menschen umgegangen werden soll. Die EKAF ist das höchste Beratergremium der Schweizer Regierung zu HIV und Aids. Sie setzt sich zusammen aus VertreterInnen derWissenschaft und den wesentlichen Akteuren der HIV-Prävention. In ihrer Bedeutung ist sie vergleichbar mit dem Deutschen Nationalen Aids-Beirat der Deutschen Bundesregierung. Die Empfehlungen wurden einstimmig verabschiedet und am 30.01.2008 veröffentlicht.

Auf Grundlage des aktuellen Standes der Diskussion gehen wir davon aus, dass die Grundaussage des EKAF-Papieres breite fachliche Unterstützung findet.

Die Kontroverse fokussiert aus unserer Sicht eher die Frage, ob die Aussagen der EKAF veröffentlicht werden sollten und welche Folgen dies für die Prävention von HIV-Neuinfektionen haben würde. Im Einklang mit unseren Leitbildern lehnen wir es ab, der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten oder Informationen interessengeleitet zu entstellen, auch nicht aus präventionstaktischem Kalkül. Insbesondere das Unterdrücken neuer Erkenntnisse hinsichtlich der Übertragungswege und der Infektiosität von HIV ist in keinem Fall ein legitimes Mittel zur Erfüllung irgendeines Zwecks.

Position

Trotz aller Bedenken, die hinsichtlich möglicher Restrisiken in die Diskussion gebracht werden, besteht unserer Kenntnis nach Einigkeit darüber, dass die Restrisiken maximal denen von Safer Sex entsprechen. Da ein weitgehender Konsens in der Fachöffentlichkeit besteht, Safer Sex (unter Verwendung von Kondomen) zu empfehlen, und wir dies - nicht ohne den Hinweis auf Restrisiken - schon immer tun, schließen wir uns der Aussage der EKAF im Grundsatz an.

Wir leiten daraus die folgende Formulierung ab:

"Wer seit mindestens 6 Monaten eine Viruslast unter der Nachweisgrenze hat, die Therapie konsequent durchführt und keine anderen symptomatischen STIs hat, überträgt HIV bei Kondomverzicht mit einer Wahrscheinlichkeit, die der von Safer Sex (unter Verwendung von Kondomen) ohne diese Voraussetzungen entspricht."

Die in letzter Zeit zunehmende Fokussierung von Risikowahrnehmung und Verantwortung auf Menschen, die von ihrer Infektion wissen, halten wir präventionslogisch für kontraproduktiv. Sie ist falsch angesichts der Erkenntnis, dass Neuinfektionen nicht nur überwiegend von Menschen ausgehen, die von ihrer Infektion nicht wissen, sondern dies vor allem dann geschieht,wenn sich die Träger des Virus gerade selbst erst infiziert haben, und sich somit noch in der Phase der Primärinfektion befinden.

Wir begrüßen, dass eine Aussage, die von vielen Experten seit längerem außerhalb der Öffentlichkeit getroffen wird,nun die Öffentlichkeit erreicht hat.

Wir gehen davon aus, dass die Veröffentlichung der EKAF einen wichtigen Beitrag dazu leistet,
  • den Wandel des Selbstbildes von Betroffenen zu befördern;
  • eine Normalisierung der gesellschaftlichen Wahrnehmung von HIV/AIDS zu befördern;
  • einen den Realitäten angemessenen Blick auf Übertragungsmöglichkeiten und -wahrscheinlichkeiten zu eröffnen, und so den Abbau von Fehleinschätzungen und daraus resultierenden Ängsten zu befördern;
  • Aushandlungsprozesse in Beziehungen, auch im Hinblick auf Schwangerschaft und Kinderwunsch zu erleichtern;
  • von Infektionsängsten unbelastete sexuelle Begegnungen zu ermöglichen, und selbst bei Safer Sex-Unfällen Ängste abzubauen. In diesem Zusammenhang erwarten wir zudem einen Bedeutungsverlust der PEP.
  • die Angst vor einem positiven HIV-AK-Test mit den daraus resultierenden Folgen abzubauen und so die Motivation zum Test zu stärken (mit den daraus resultierenden Vorteilen für die Sekundärprävention);
  • ein gelingendes individuelles Risikomanagement zu realisieren,
  • indem zum einen Schutzillusionen abgebaut werden (hierzu zählen wir neben dem negativen Serosorting vor allem die Identifikation von Orten/Settings und Partnern, die als „sicher“ phantasiert werden, was einer fehlgeleiteten subjektiven Sicherheitsvorstellung gleichkommt), und
  • indem zum anderen das Bewusstsein für die Bedeutung der Prävalenz von HIV und anderen STIs bei MSM geschärft wird;
  • unsere Präventionsstrategien weiterzuentwickeln, u.a. auch durch die Festigung bestehender Standards, wie die Stärkung von Selbstbestimmungsprozessen, die Berücksichtigung von Lebensqualität und die Orientierung an der gelebtenWirklichkeit;
  • die Rechtsprechungspraxis zu verändern.
Implikationen für die Beratungsarbeit und die Prävention

Die hessischen Aidshilfen verfolgen in ihrer Beratungsarbeit als ein wesentliches Ziel "die Wiederherstellung, Wahrung und Erweiterung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten" und "die Ausweitung des Handlungsfeldes und der Handlungsalternativen" der Beratungssuchenden (Leitlinien zur psychsozialen Beratungsarbeit).

In diesem Sinne unterstützen wir Ratsuchende, auf die die von der EKAF benannten Voraussetzungen zutreffen, in ihrer Auseinandersetzung mit der Frage, in wie weit eingeübte (negative) Selbstbilder angesichts die Neubewertung, die durch Veröffentlichung der EKAF vorgenommen wird, überdacht werden müssen. Wir zielen dabei darauf ab, die entlastenden Aspekte dieser Aussagen wirksamwerden zu lassen.

Wir sind uns jedoch auch der Tatsache bewusst, dass die Aussagen der EKAF nicht ausschließlich eine Entlastung darstellen, denn für die Betroffenen wird die Auseinandersetzung mit der eigenen Infektiosität komplexer.Wir gehen davon aus, dass die Wahrnehmung der Veränderungen in der Viruslast für die betroffenen KlientInnen an Bedeutung gewinnt. In unserer Beratungsarbeit müssen wir uns folglich den medizinischen und psychosozialen Herausforderungen stellen, die durch ein intensiviertes "Therapie-Monitoring" entstehen können.Um den hieraus resultierenden Beratungsbedarfen gerecht werden zu können, aktualisieren wir fortwährend unser medizinisches Fachwissen und setzen uns bei unserem Bundesverband dafür ein, dass entsprechende Fortbildungsmaßnahmen angeboten und Informationsangebote bereitgestellt werden.

Darüber hinaus unterstützen wir Ratsuchende in ihren Bemühungen, die veränderte wissenschaftliche Bewertung der Infektiosität unter einer wirksamen ART in das eigene Risikomanagement zu integrieren. Auch in dieser Frage schreiben wir gemäß unserem Leitbild niemandem Antworten und Lösungen vor, sondern arbeiten ergebnisoffen. Wir enthalten niemandem Informationen vor und stellen Transparenz her sowohl im Hinblick auf unterschiedliche wissenschaftliche Bewertungen als auch im Hinblick auf unsere eigenen Ziele und Haltungen als BeraterInnen und die fachlichen Diskurse,die diese beeinflussen.

Diese Haltung in der Beratung entspricht der unserer Präventionsarbeit. Wir stellen uns den Herausforderungen, die aus der zunehmenden Individualisierung der Präventionsstrategien erwachsen sind und bieten unsere Unterstützung in der Gestaltung eines gelingenden Risikomanagements an. Wir bieten Anlass und Informationen, um die individuellen Strategien zu hinterfragen und abzusichern und fördern die individuelle Auseinandersetzung mit Wünschen, Phantasien und Sehnsüchten sowie die Bereitschaft, diese zu kommunizieren. Hierdurch fördern wir die Bereitschaft zur Übernahme von Eigenverantwortung. Gegenüber der Politik und unseren Finanzgebern fordern wir die Unterstützung ein, die für den Ausbau und die Weiterentwicklung unserer personalkommunikativen Angebote notwendig ist.

Verabschiedet auf dem Verbandstag der AIDS-Hilfe Hessen am 12.11.2008
www.aids-hilfe-hessen.de

 
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